Mein lieber mein Vater

Marina

Marinas Brief an ihren Lieblingsschwiegervater

Hamburg, 30.01.05

Hallo Diego,

bitte schenke mir etwas von deiner Zeit und Aufmerksamkeit, damit weder du und deine Frau, noch Marie und Ene, obwohl es hätte vermieden werden können, unglücklich sind. Die Ausladung zu Maries Konfirmation, die eigentlich keine war, erfolgte ausschließlich auf meine dringliche Bitte.

Als Ene euch von Maries Konfirmation erzählte, rechnete er nicht damit, dass ihr euch eingeladen fühlen könntet. Es sollte eine Information sein, sonst nichts. Vor einem Jahr, als ihr über Maries Taufe gesprochen habt, hattest du ja noch einmal recht deutlich gesagt, was du von Taufe, Kirche und Religion im allgemeinen hältst, so dass wir einfach nicht mit einem Interesse eurerseits daran teilzuhaben, rechnen konnten. Normalerweise wäre des nicht weiter tragisch gewesen und wir hätten einfach ein wenig umdisponieren müssen und dann wäre es schon irgendwie gegangen – normalerweise.

Am Telefon sagtest du zu Ene, er solle Klartext reden, aber er mochte euch nicht sagen, was los ist, weil er viel zu nett und zu höflich ist, und weder mir die Schuld geben, noch euch verletzen wollte.

Bevor er euch anrief, habe ich die ganze Nacht wachgelegen und mir versucht vorzustellen, wie die Begegnung zwischen dir und mir Wohl verlaufen würde und ob es nicht ausnahmsweise einmal gut gehen könnte, aber meine Angst vor einem Eklat, wie bei unserem letzten Zusammentreffen, war einfach zu groß. Sicher wäre es einfacher gewesen, wenn wir es beim Status Quo hätten belassen können; ich unterlasse mit höflicher Begründung die Besuche bei euch und ihr haltet es umgekehrt genauso. Bedauerlicherweise ist es dazu nun zu spät und deshalb werden drei Unschuldige mit hineingezogen und müssen leiden.

Es gibt Schatten, die so groß sind, dass ich nicht mehr über sie zu springen vermag, und das sind nicht nur meine eigenen. Mit schlafwandlerischer Treffsicherheit hast du mir einmal gesagt, dass ich meinen Eltern Unrecht tue, wenn ich schlecht über sie rede und furchtbar undankbar wäre und im Augenblick denkst du wahrscheinlich, dass ich wohl keinen Friseur habe, um ihm derlei Dinge zu erzählen. Damit hast du nicht ganz unrecht, aber versuche mir bitte, trotzdem nur dies eine Mal zu folgen, ich will dich auch gewiss nie wieder mit meinen persönlichen Angelegenheiten behelligen.

Mein Erinnerungsvermögen reicht weit in meine frühe Kindheit zurück und einer der Standardsätze meiner Mutter, an die ich mich schon seit ich ganz klein war, erinnern kann, lautete: „Warum musstest du dich nur vordrängeln und auf die Welt kommen, es ging mir viel besser ohne dich, wir hatten so ein schönes Leben.“ Mit vielen Einzelheiten über meine schöne Kindheit möchte ich dich nicht langweilen, nur so ein paar Highlights kann ich mir nicht verkneifen. Die Grausamkeiten, mit denen meine Mutter mich bedachte, waren meistens eher seelischer Natur, sie machte mir stets klar, dass ich nun wirklich nichts wert bin und hat sich nur zu sogenannten Ohrfeigen hinreißen lassen. Einmal warf sie mit den Bügeleisen nach mir, ein anderes Mal stellte sie es mir als es heiß war, auf die Hand.

Als ich siebzehn war, mein Vater war für ein paar Tage nicht zu Hause, bekam ich eines Tages furchtbare Bauchschmerzen und Fieber. Meine Mutter hat erst nach drei Tagen einen Krankenwagen gerufen. Ich hatte einen geplatzten Blinddarm und drei Wochen lang einen Schlauch, der aus meinem Bauch herausragte. Danach bin ich noch einen Monat heiser gewesen, weil ich soviel geschrien habe.  Ich kann mich außer an diese fürchterlichen Schmerzen an nichts mehr erinnern. Erst als ich selbst ein Kind hatte, ist mir klar geworden, dass sie damals wohl versucht hat, mich sterben zu lassen, aber die Nachbarn haben sich über den Krach beschwert.

Mein Vater war Alkoholiker (wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich Marie nicht bekommen hätte) und ein verurteilter Betrüger. Die Schieberei mit dem gestohlenen Lastwagen beging er, um Geld zum Saufen zu haben. Er sagte aus und hatte riesiges Glück, er kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Seit ich ganz klein war, hat mein Vater das meiste Geld versoffen und immerzu Schulden gemacht. Er verprügelte mich immer gern, als ich noch ein Kind war , wenn meine Mutter ihn darum bat, wenn er abends von der Arbeit kam. Damals schlug er schon ziemlich hart zu. Als ich elf Jahre alt war, wurde meine Mutter erneut versehentlich schwanger. In dieser Zeit trug mein Vater mir auf, alle an ihn gerichteten Schreiben abzufangen, weil er meiner Mutter eine Überraschung machen, und ein Grundstück kaufen wollte- als richtiger Idiot, der ich damals schon gewesen bin, glaubte ich ihm natürlich. Prompt entging mir ein Brief und meine Mutter fand heraus, dass mein Vater eine gigantische Summe Schulden gemacht hatte. Da ich als Kind etwas theatralisch war, sagte ich meinem Vater, wie sehr ich ihn verachtete und ich hielt es fast ein Jahr durch, nicht mit ihm zu reden. Von da an hasste er mich, bis zu seinem Tode. Bis ich siebzehn war, und meine Eltern wegzogen, verprügelte er mich von da an, immer wenn er betrunken war und er mich erwischen konnte. Ich hatte oft grüne und blaue Arme und Beine uni ein paar Mal flog ich so doll durch die Gegend, dass die Möbel kaputt gingen.

Mein Bruder hatte es besser, denn bis er sechs wurde, hatte meine Mutter nun nachmittags ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe. Auch wenn es mir oft zu viel werde, habe ich meinen Frust nie an meinem Bruder ausgelassen, denn ich wusste nur zu gut, dass er auch nichts dafür konnte auf Welt gekommen zu sein. Er kam mir wie ein Wunder vor und ich betete ihn an, zum ersten Mal in meinem Leben gab es jemanden, den ich ungestraft lieb haben konnte. So Diego, nun überlege doch mal, ob ich nicht vielleicht die Wahrheit sagen könnte. All dies und einige Vorfälle aus seiner eigenen Kindheit, weiß mein Bruder in dieser in dieser konkreten Form nicht, und es wäre auch grausam, ihn damit zu konfrontieren. Mein Vater wurde einige Jahre nach dem Umzug in den Wald, direkt vor dem Haus, ohne eigenes Verschulden angefahren, was vor allem für meinen Bruder ein riesengroßes Glück war. Statt der zu erwartenden Arbeitslosigkeit nach der Verurteilung und wegen des vielen Trinkens, wurde mein Vater Frührentner. Mit der Gehbehinderung nach dem Trümmerbruch konnte er nicht mehr allein das

Haus verlassen und meine Mutter konnte ihm den Alkohol so zuteilen, dass er nicht mehr ausflippte und immerhin siebzig wurde. Was ich dir sagen will, ist Folgendes: Ich hatte eine fürchterliche Kindheit und Jugend und bin permanent ungerecht uns gemein behandelt worden und ich kann und will so etwas niemals mehr ertragen. Weil ich mir mein Leben lang Eltern gewünscht habe, bin ich all die Jahre hinter ihnen hergelaufen und habe gehofft, dass sie nur einmal sagen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung war, und dass es innen leid tut.

Als ich siebenundvierzig war, habe ich mich nach einer weiteren Glanzleistung meiner Mutter endlich von meinem Elternwunsch befreit. Anfänglich hatte ich schon gehofft, irgendwie von Enes Eltern etwas abzubekommen, denn akzeptiert zu werden und angenommen zu werden, wünscht sich jeder Mensch sein Leben lang. Für mich ist es wirklich traurig Diego, dass ich dich sogar verstehen kann. Wie du, bin auch ich der Meinung, dass dein Sohn ein besseres Leben, als das mit mir, verdient hat. Was hast du denn erwartet, das ich tun soll? Ich kann Marie und mich doch nicht in Luft auflösen.

Nun müssen wir alle mit den Voraussetzungen leben, die nun einmal da sind. Ich möchte mich niemals wieder dem Gefühl aussetzen, nur geduldet zu sein und deshalb bitte ich dich, last und weiter einen Bogen umeinander machen, und am Telefon höflich sein. Der Brief mit Hausputz war eine klare Retourkutsche, aber leider hast du die Falschen damit erwischt, Marie und Ene haben euch von Herzen lieb und leiden unter den Ausladungen. Es ist nur so, Ene lebt mit mir zusammen und versteht mich eben auch. Dein Brief hat mir Angst gemacht, dass mein Mann nun durch meine Schuld auch seine Eltern verliert, bitte glaub mir, wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich mich zusammengerissen, ich kann bloß ganz einfach nicht mehr.

Mein Körper macht mir auch ziemliche Schwierigkeiten, in einem Maße, dass ich fürchte, dass du mich überleben wirst. Ich habe oft Schüttelfrost und wirklich literweise Schweißausbrüche. Ich kriege regelrechte Schüttelkrämpfe und kann mich nicht mehr bewegen. Meine Körpertemperatur sinkt und ich habe fürchterliche Durchblutungsstörungen und ich kann nur mit Gewalt wieder warm werden. Dann bekomme ich Herzrhythmusstörungen und Todesangst. Die Ärzte habe ich alle durch und es handelt sich wohl um die Nebenwirkungen der lebensnotwendigen Tabletten. Diese Anfälle habe ich verstärkt, wenn ich zum Beispiel nur eine lumpige kleine Erkältung habe, oder durch Durchfall oder Schlaflosigkeit. Weil mein Immunsystem ziemlich im Eimer ist, ist es mitten im Winter am schlimmsten. Ich habe Angst dann allein zu sein, weil ich mir einfach nicht selbst helfen kann. Jemand muss mir dann die Wärmflaschen und den Heizlüfter holen, wenn ich so einen Anfall habe, schaffe ich es nicht allein. Den letzten etwas schwereren hatte ich kurz nach Weihnachten, letztes Jahr hatte ich im Januar einen und das Jahr davor im Februar. Wenn sie so schlimm sind, dauert es drei Wochen, bis ich wieder aufstehen und hinaus gehen kann. Das erzähle ich dir nicht, damit du Mitleid hast, sondern, weil es meine Möglichkeiten so sehr eingrenzt. Auch, wenn du dieses Jahr achtzig wirst, ich kann nicht viermal am Tag mit dem Hund rausgehen, das wäre in der Kälte mein ziemlich sicherer Tod. Und, wie du dir nun auch sicher denken kannst, möchte ich nicht länger als vier Tage allein zu Haus sein, ganz abgesehen davon, dass es für mich zu Weihnachten oder Silvester eine besondere Strafe wäre, allein zu sein. Ene hat euch nicht erzählt, wie schwer er es mit mir hat, weil er euch nicht belasten wollte. Es gibt also richtige Probleme, wenn ihr in eurem kurzem Leben Sohn und Enkelin treffen möchtet. Ene kennt diesen Brief nicht, er weiß nur, dass ich dir schreibe. Mit meiner Mutter gibt es in diesem Leben keine gemeinsame Sprache mehr aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass du dich mit deinem Sohn aussprechen kannst, jetzt, wo zwischen uns Klartext gesprochen ist.

Marina

P.S.

Bitte überlege dir genau, ob du dies deiner Frau zumuten willst.