Kind
Hilku:
Dein Vater war artig und faul, ganz ehrlich. Brav war er, weil sie im Kindergarten gelernt hatten, sich in die Gemeinschaft einzufügen, und faul, weil ihm alles zu leichtfiel. Die Lehrer meinten, dass er unterfordert wäre und meinten, dass er in der Mittelschule besser aufgehoben sein würde.
Als er 19 Jahre alt war, wollte Dein Vater ausziehen. Damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig, er brauchte also unsere Erlaubnis. Wir waren damit einverstanden, aber er blieb dann doch bei uns.
Einmal fuhr er mit einer Gruppe in die Bretagne, nach Nantes. Davon hatte er uns viel erzählt, auch, dass einige Franzosen einen Gegenbesuch machen wollten. Ich weiß nicht, ob ein Termin ausgemacht wurde, ich weiß nur, dass an dem Tag, an dem sie eigentlich erwartet wurden, ein Telegramm aus Paris ankam, dass sie Panne hätten. Ene hatte zu dem Zeitpunkt studiert und ausgerechnet an dem Tag, als er abends noch zu einer Vorlesung musste, die bis fast 20 Uhr dauern sollte, klingelte es bei uns und ein Mädchen und ein junger Mann standen vor der Tür und wollten zu Ene. Ich bat sie herein und sagte, dass Ene erst um 8 Uhr käme. Das verstanden sie natürlich nicht und ich machte ihnen mit Händen und Füßen, wie man so sagt, und mit Uhrzeit zeigen klar, dass sie hereinkommen sollten und warten. Vorher holten sie aber noch zwei junge Männer nach oben.
Wir boten ihnen was zu trinken an, aber Martine wollte Aqua. Als wir mit einer Flasche [kamen] schüttelte sie den Kopf. Da nahm ich sie bei der Hand, ging mit ihr in die Küche und drückte ihr ein Glas in die Hand. Sie ging damit zum Wasserhahn und trank also Leitungswasser.
Dann kam endlich Ene, der sich mit ihnen besser verständigen konnte als wir. Wir deckten den Abendbrottisch und hatten beim Essen viel Spaß. Ene bereitete uns schon darauf vor, dass unser Essen für dir Franzosen sehr exotisch sei. Sie kannten kein Schwarzbrot, keinen angerührten Quark usw. In Frankreich isst man abends warm. Und Wurstscheiben kennen sie nur als Vorspeise am Mittag. Das Wort Schwarzbrot konnten sie nicht richtig aussprechen. Das hörte sich richtig niedlich an.
Der junge Mann mir gegenüber (ich glaube, der hieß Christian) machte dann so eine Gestik, wie kleine Kinder sie machen, wenn sie müde sind. Ich schloss daraus, dass er wissen wollte, wo er schlafen konnte. Ich zeigte auf das Sofa, aber da schüttelte er ungläubig den Kopf. Mit Reden war da auch nicht viel getan. Da nahm ich die Martine bei der Hand und ging mit Ihr zu Enes Zimmer und zeigte auf sie und auf das Bett. Dann gingen wir wieder ins Wohnzimmer zurück und ich nannte die Namen von den Jungs. Einer auf dem Sofa, die anderen auf dem Teppich. Sie hatten ja Luftmatratzen und Schlafsäcke mit. Damit waren alle einverstanden. Ich sagte Ene dann noch, dass nach uns er als erster aufstehen müsste und nach und nach die anderen sich im Badezimmer fertig machen könnten.
Martine sollte erst zum Schluss aufstehen, da war sie uns nicht im Wege. Der nächste Tag war der 17. Juni - ein Feiertag. Da hatten wir Zeit, die Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen. Wir dachten, dass wir die Invasion überstanden hätten. Aber am Abend waren sie alle wieder da, sie konnten erst einen Tag später ihr anderes Quartier beziehen. Aber auch das ging ohne Schwierigkeiten vorbei.
Später, als wir einmal ein Wochenende bei unseren Freunden in Holland verbracht hatten, kamen wir nach Hause und wurden von unserem Sohn mit den Worten empfangen: Seid bloß froh, dass ihr nicht zu Hause gewesen seid. Auf meine Frage, ob die französische Invasion wieder dagewesen ist, nickte er und erzählte uns, dass die Martine mit ihrem Chef aufgetaucht wäre. Sie hätte dem Chef so viel von Hamburg vorgeschwärmt, dass er unbedingt auch mal selber kommen wollte.
Als Ene 25 Jahre alt war, zog er dann endgültig bei uns aus und in eine kleine Wohnung ein. Wir halfen noch beim Einrichten und fanden es richtig, denn junge Leute sollen nicht zu lange zu Hause rumhängen und sich von Mutter bedienen lassen. Uns passte es auch deshalb gut, weil wir Freunde aus Polen erwarteten, da hatten wir nun ein schönes Gästezimmer.